Der Kommentar: Im "Dopingfall Keisse" gibt es nur Verlierer
Es ist zum Heulen. Jetzt droht der Doping-Sumpf auch den Bahnradsport trocken zu legen. Iljo Keisse soll am Schlussabend des Sechstagerennens von Gent gedopt haben.
Natürlich gilt bis zur Bestätigung durch die B-Probe die Unschuldsvermutung. Doch schon der Doping-"Verdacht" gegen Iljo Keisse hat viel Porzellan zerschlagen. Denn eines ist jetzt schon klar: Der "Dopingfall Keisse" wird Konsequenzen haben, die weit über das Einzelschicksal eines durchaus sympatischen und überaus charismatischen jungen Sportlers hinausgehen. Den Verantwortlichen im Sechstagegeschäft werden die Scheuklappen von den Augen fallen. Frank Minder, Macher und Chef des größten und erfolgreichsten Sechstagespektakels in Bremen, hatte noch im Oktober anläßlich der Absage der Stuttgarter Sixdays verlauten lassen: "Bei den Europameisterschaften und bei den Olympischen Spielen der letzten 25 Jahre gab es keinen Dopingfall," und dabei generös die Doping-Affären von Andreas Kappes 1997,
Andreas Kappes 2000, Guido Fulst 2001, Stefan Steinweg 2003 und Robert Sassone 2003 unter den Teppich gekehrt. Auch der Geschäftsführer der Berliner Sixdays, Heinrich Seesing, meinte:
"Der Bahnradsport ist sauber." Und Mr.Sixdays Patrick Sercu monierte jüngst in Gent: "In Deutschland redet man über alles andere, aber nicht über den Sport." Leider müssen wir über nun über Doping bei Sechstagerennen reden.
Die genannten Affären verdienter Sechstagefahrer machen deutlich: Doping ist nicht gleich Doping. Auch wenn "Sechstagerennen" nach nicht enden wollender Schinderei klingt, so sind nicht die Ausdauerleistungen wie bei einer Tour de France gefragt. Die Steigung der Kurven einer Radrennbahn sind keineswegs mit der Steigung am Tourmalet zu vergleichen. Es sind unterschiedliche Belastungen, die völlig unterschiedliche Sportlertypen erforden. Die Jagden bei einem Sechstagerennen, in denen Höchsttempo gefordert wird, dauern maximal eine Stunde. Dabei wechseln sich zwei Partner nach etwa jeder Minute ab. Zwischen den Jagden gibt es jede Menge Sprints. Ständige Tempowechsel in den Wettbewerben, kurzfristige Höchstleistungen und zwischendurch immer wieder Pausen in einem Programm, dass sich über 5 bis 6 Stunden hinzieht - dass ist der Stress für einen Sechstagefahrer. Da hilft kein EPO und kein CERA. In früheren Zeiten, als wirklich noch 6 Tage und 6 Nächte durchgefahren wurde, war das größte Problem für die Fahrer, in den Pausen vor lauter Erschöpfung nicht so tief einzuschlafen, dass sie nicht mehr aufwachten, wenn der Konkurrent zur Attacke blies und der Partner um Unterstützung rief. Schon vor 100 Jahren halfen Aufputschmittel, Amphetamine oder Kokain gegen die eingeschlafenen Beine.
Der Rennstall von Iljo Keisse, Topsport Vlaanderen, hüllt sich bislang in Schweigen über die Substanz, die im Urin gefunden wurde, hat aber in seiner ersten Erklärung deutlich darauf hingewiesen, dass es weder EPO noch CERA sei. Also nicht das große böse Tour de France-Doping, sondern nur das kleine Sixdays-Kavaliersdelikt. Es wird spekuliert, dass es sich um "Cathin" handelt, als Medikament ein Appetitzügler mit der Nebenwirkung eines Amphetamins. Ein Wachmacher also, und als solcher auf der Dopingliste des IOC. Cathin-haltige Arzneimittel sind rezeptpflichtig. Sollte Keisse ein Cathin-haltiges Medikament zu sich genommen haben, muß er es sich von einem Arzt besorgt oder auf dem Schwarzen Markt gekauft haben. Das erfordert einen Vorsatz, keinen schwachen Moment in der Drogerie um die Ecke und keine falschen Freunde, die einem eine Partydroge unterjubeln.
Andere Gerüchte besagen, Keisse hätte "Sinutab" zu sich genommen, ein Medikament zur Behandlung von Nasennebenhöhlenentzündungen. Sinutab (auch unter anderen Namen erhältlich) enthält Pseudoephedrine, die atembehindernde Schwellungen in der Nase besänftigen, aber wegen ihrer aufputschenden Nebenwirkungen auf dem Doping-Index stehen. Zwei Fliegen also mit einer Klappe. Und: Sinutab ist in vielen Ländern nicht rezeptpflichtig.
Erkältungskrankheiten sind für Sechstagefahrer eine ständige Last. Auch innerhalb einer Halle gibt es bei Geschwindigkeiten von 50 km/h mächtigen Fahrtwind. Wer im Innenraum direkt an der Bande steht, kann verstehen, warum die Fahrer mitunter den Veranstalter bitten, die Heizung in der Halle aufzudrehen. Deshalb hat jeder Bahnarzt Mittelchen in seinem Köfferchen, die nicht auf der Dopingliste stehen. Und jeder Sportler kennt Großmutters Hausmittel gegen die laufende Nase: Dampfinhalation oder Nasenspülung. Für erkältungsanfällige Fahrer wie Franco Marvulli oder Christian Grasmann gehört das zum täglichen Fitnessprogramm.
Offenbar hatte Iljo Keisse am Schlussabend von Gent zwei Probleme: Er war erkältet und er wollte das Rennen in seiner Heimatstadt unbedingt gewinnen. Und doch macht die Wachmacherpille eigentlich keinen Sinn. Keisse/Bartko waren derart überlegen wie kein anderes Siegerpaar in diesem Winter. Iljo wird uns einiges zu erklären haben.
Normalerweise handelt ein Dopingsünder nach rationalem Kalkül von Nutzen und Risiko. Der Nutzen von Gent stand in keinem Verhältnis zum Risisko einer weggeworfenen Karriere. Iljo Keisse war der Kronprinz im Sechstagezirkus. Im Alter von 25 Jahren hat er schon 51 Rennen und 11 Siege auf seinem Erfolgskonto. Seine Konkurrenten Risi, Bartko, Zabel, Stam oder Beikirch sind allesamt älter als 35 und stehen kurz vor dem Karriereende. Keisse hätte für die nächsten zehn Jahre der Dominator der Sechstagebahnen werden können, hätte in die Erfolgssphären der ewigen Sechstagekaiser Patrick Sercu, Danny Clark, René Pijnen oder Rik van Steenbergen radeln können. Für die Veranstalter ein Jahrhundert-Glücksfall. Frühere Überflieger wie Sercu, Andi Kappes oder auch Etienne de Wilde waren die Wölfe im Schafspelz, die nimmersatt Gegner und Kilometer fraßen, sich aber auf der Siegerrunde dem Publikum schüchtern und introvertiert zeigten. Iljo Keisse ist in jeder Halle ein Publikumsliebling, ein attraktiver junger Mann, nicht auf den Mund gefallen, extrovertiert in seiner Fahrweise und dabei hin und wieder ein bißchen crazy. Solche Typen braucht das Business. Ohne Iljo Keisse muß Bruno Risi noch zehn Jahre weiterfahren.
Iljo Keisse hat sich alles kaputt gemacht, wofür er 15 Jahre lang gekämpft hat. Aber er hat auch allen was kaputt gemacht, dem Publikum, den Veranstaltern, den Journalisten und uns allen als Fans. Das ist das Unerklärliche und das Unerträgliche am "Dopingfall Keisse". Es ist zum Heulen.
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